Wolfgang Baur: Vom Abraham Notizenroman I
6,00 €
Beschreibung
272 Seiten, gebunden, Taschenbuch
ISBN 978-3-88410-013-4 , 6.00 €
Textprobe
Wolfgang Baur:
Vom Abraham. Notizenroman 1
Kürzlich ist mir ein Mensch eingefallen,
dem der Befehl erteilt wurde, selbständig
zu denken.
‘Denke selbst‘, wurde ihm gesagt,
‘das schaffst du schon.‘
Und mit ihm beginnt unsere Geschichte.
Wir wollen ihn Abraham nennen;
dem Befehl entsprechend begann er
selbständig zu denken und begegnete
kurz darauf einem Löwen.
Eine goldgelbe warme Wolke, die
sich bewegt, dachte Abraham, und
wunderbar zielbewußt auf mich zu,
dachte er und sah für Sekunden
aufmerksam in ein schwarzes
zuckendes Loch.
Oder Abrahams Denken hatte sich
verselbständigt und der leibhaftige
Abraham war längst auf und davon,
saß zitternd, wie man es ihn gelehrt hatte,
hinter einem dicken Strauch oder lief,
wie er es aus den Abenteuerbüchern
kannte, um sein Leben.
Der Löwe, an selbständiges Denken
nicht gewöhnt, suchte mürrisch nach
Abraham, wenn auch vergeblich.
Abraham hatte eine jüngere Schwester,
die hieß Eva. Als es Zeit war, sie zu
verheiraten, suchte Abraham einen
braven Mann für sie, und der hieß Adam.
Eva hatte sich gerade in Adam verliebt,
als der Löwe auftauchte. Adam und Eva
faßten sich an der Hand und rannten davon.
Hinter einem Strauch hörten Eva und
Adam mit Herzklopfen das Schnaufen
des Löwen, das Rascheln der Blätter,
das Zwitschern der Vögel, das Rauschen
des Wasserfalls, das Summen der Bienen
und abermals das Schnaufen des Löwen,
der sie nicht fand, während sie sich umarmten.
Inzwischen hatte sich Abraham zum
Fachmann für Löwen entwickelt.
Immer wenn ein Löwe auftauchte,
war er es, der davonrannte, unter den
bewundernden Blicken seiner Umgebung.
Immer wenn ein Löwe auftauchte,
suchte er nach Abraham und
behandelte die übrigen wie Luft.
Mit der Zeit gewöhnte man sich daran,
an die Löwen, und an den, dem sie nachliefen.
Allmählich wurde es langweilig.
Ein Zimmermann namens Noah begann in
seiner Freizeit ein Schiff aus Holz zu bauen.
Als die Flut stieg, flüchtete allerlei Getier
zu Noah auf das Schiff, und zuletzt, als er
schon dichtmachen wollte, kam noch Abraham
aufs Deck gerannt und hinter ihm mehrere Löwen.
Die Fahrt begann. Es regnete unablässig.
Die Löwen gähnten vor Langeweile.
Abraham und Noah spielten Schach.
Die Erde bebte. Blitze zuckten,
Donner rollte.
Inseln entstanden im Meer.
Zeitweise hielt Abraham Noah für
einen Gott. Er äußerte vor niemandem
diese Ansicht, somit sagte niemand
etwas dagegen. Alle Tiere im Schiff
ertrugen einander, waren von einer
rätselhaften Geduld.
Mehrmals schon hatten die Tauben
einen Rundflug gemacht und waren
ohne Ölzweig zurückgekehrt.
Als endlich eine der Tauben mit einem
Ölzweig zurückkehrte, waren Abraham
und Noah ins Spiel vertieft und
bemerkten es nicht.
Die Arche neigte sich langsam zur Seite.
Adam und Eva rollten eng umschlungen von
Deck.
Die Sonne schien, als wäre nichts geschehen.
Alle Tiere verließen hintereinander das Schiff
und verteilten sich auf der Erde.
‘Schach‘, sagte Abraham.
Noah zuckte zusammen. Diesen Zug
hatte er übersehen. Er dachte an Gott,
der ihm den Tip mit der Arche gegeben
hatte, und kam sich auf einmal ziemlich
verlassen vor.
Die Löwen warteten noch eine
Zeitlang auf Abraham; als er
nicht kam, gingen sie.
Abraham und Noah analysierten
die Stellung, was noch einige Minuten
in Anspruch nahm. Dann traten sie
vorsichtig ins Freie. Die Luft war mild,
weich, würzig. Bienen summten.
Ein Schmetterling verschwand
langsam in der zart einbrechenden
Dämmerung. Wolken zogen den
dunkler werdenden Himmel hinunter,
bei Sonnenuntergang begannen die
ersten Sterne zu strahlen.
“Eigentlich hätte ich mir schon etwas
mehr Anerkennung erwartet“, sagte Noah,
nachdenklich geworden. Abraham begann,
die Luft anzuhalten. Das war eine seiner vielen
Lieblingsbeschäftigungen.
Eine andere Lieblingsbeschäftigung
Abrahams bestand darin, über den
eigenen Schatten zu springen.
Er hatte es schon oft geübt und
beherrschte es meisterlich.
Noah sah ihm jedesmal bewundernd zu.
Einmal versuchte er es selbst, erfolglos.
Ein junges Mädchen verirrte sich beim
Beeren-Suchen und kam ahnungslos
den Berg herauf, wo die Arche immer
noch stand. Abraham sah sie kommen
und verliebte sich sofort in sie.
Sie war das einzige weibliche Wesen
weit und breit.
“Weibergeschichten“, murmelte Noah.
Abraham zeigte alle seine Kunststücke.
Das Mädchen, es hieß Sarah, war begeistert.
Während sie noch an das dachte, was er ihr
vorgeführt hatte, merkte sie kaum, wie er sie
berührte.
Ihr Lächeln verwirrte ihn immer mehr.
Er versuchte, sich gefaßt zu geben.
Sie lächelte auch darüber, ohne es zu ahnen.
Inzwischen hatte Noah angefangen,
nach dem Stein der Weisen zu suchen.
Seine drei Söhne unterstützten ihn
dabei pflichtschuldigst. Zahlreiche Götter
machten sich auf der Erde bemerkbar.
Allmählich wurde das Lachen auf
der Erde populär. Wenn ein Mensch
oder ein Gott aus Versehen in eine
der wenigen von der Flut übrig gebliebenen
Wasserpfützen fiel, lachten die anderen,
als hätten sie schon seit ihrer Geburt darauf
gewartet. Wenn niemand hinfiel,
blieben alle ernst.
Manchmal fiel einer absichtlich
in eine Pfütze, um die anderen
zum Lachen zu bringen.