Waltraut Fryda: Grenz-Erfahrungen Eine Autobiographie

25,00 €

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Beschreibung

420 Seiten, gebunden, Illustriert
ISBN 978-3-88410-078-3 , 25.00 €


Textprobe


Waltraut Fryda


Grenz-Erfahrungen


In Jena angekommen, fütterte ich dann erst einmal alle meine befreundeten Kommilitonen satt, und so hielt mein Essensvorrat zwar nicht lange, aber wir waren wenigstens alle mal einen Tag lang richtig glücklich und zufrieden, ich hatte ja außerdem noch die Kleider und die Tausender, und das half dann auch eine Zeitlang weiter. Mitgebracht hatte ich vor allem auch ein langes Abendkleid meiner Mutter, das ich mir enger machte, und das mir bei dem großen Ereignis von Jena, dem Juristen- und Medizinerball natürlich dazu verhelfen sollte, allen anderen Mädchen den Rang abzulaufen. Sowohl der Studentenführer der Juristen als auch der der Mediziner hatten mich gebeten, ihre Tischdame zu sein, ich hatte mich aus Paritäts- und auch ein bißchen aus Herzensgründen für den Mediziner entschieden, den ich, obwohl ich natürlich Hannes treu bleiben wollte, schon eigentlich recht gerne sah, und konnte den großen Abend kaum erwarten.

Als er endlich da war, war ich schon um 7 Uhr fertig, obwohl ich erst um halb acht abgeholt werden sollte und fand mich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich schön, als es kurz nach 7 Uhr läutete. Ich raste, so schnell es mir das lange Kleid erlaubte, die vier Treppen hinunter, um Will hereinzulassen, da stand Hannes, abgemagert und total verschreckt vor mir. Er hatte - trotz der Lebensgefahr, in die er sich begab - so große Sehnsucht nach mir gehabt, daß er schwarz über die Grenze vom Westen zurückgekommen war, um mich einmal wiederzusehen.

Meine Aufmachung und mein entsetztes Gesicht sprachen Bände! Er bat mich flüsternd, ihn doch schnell hereinzulassen, da er Angst hatte, entdeckt zu werden - und ich, ich konnte es wahrhaftig nicht fertig bringen, ihm irgendwelche Freude zu zeigen, so groß war meine Enttäuschung! Der Abend, an dem ich natürlich zu Hause blieb, muß für den armen Hannes bis heute zu seinen schlimmsten Erinnerungen gehören, und ich kann heute meine Reaktion natürlich nicht mehr verstehen, aber so war es eben.

Frau Schröder erlaubte natürlich nicht, daß Hannes bei mir schlief, und machte ihm ein Bett in ihrer Küche zurecht, wo er, wahrscheinlich verzweifelt und einsam, eine schlimme Nacht verbrachte. Am nächsten Abend mußte er wieder weg, da er in Mainz sein Studium begonnen hatte, wo er sich nachts das Geld dafür am Hochofen verdiente. Seine Meinung über mich war damit festgelegt - man hatte ihm ja schon früher erzählt, welch wildes Leben ich in Jena führte, und nun hatte er sich selbst davon überzeugen können, was für eine Art Mädchen ich war. Aber seine Liebe blieb bestehen, und bald bekam ich wieder Briefe von ihm aus dem Westen.

Schließlich bereute ich mein Benehmen doch sehr und hörte zumindest auf, mit Will zu flirten, und versuchte auch tatsächlich, nicht mehr zu den täglichen Treffs im Paradies-Café zu gehen. Aber da hatte ich die Rechnung ohne meine Kommilitonen gemacht. Wenn ich nicht im PK erschien, wurde einfach eine Abordnung zur Rinne 5 geschickt, und dort machten die Herren auf ihren Tennisschlägern als Gitarrenersatz so lange einen Höllenlärm vor meinem Zimmer, bis ich freiwillig mitging, da mich sonst die Nachbarn gelyncht hätten! So kam das dritte Semester, und ich fühlte mich gesundheitlich auf einmal sehr schlecht, hatte ständig Husten und Fieber und nahm rapide an Gewicht ab. Eine Untersuchung bestätigte meinen Verdacht - ich hatte Tuberkulose.

Natürlich wollte man mich in eine Lungenheilanstalt bringen, aber auch dort gab es wenig zu essen, und so entschied meine Prager Tante, daß ich für längere Zeit zu ihr kommen sollte, um mich auffüttern zu lassen - und das tat ich dann auch. Diesmal war nun Winter, und der gefährliche Weg über die Grenze wurde schon mit leeren Rucksäcken zur Tortur, verlief aber sonst auf dem Hinweg ohne jedes Problem.

In Prag wurde ich nun gemästet wie eine Gans und wurde immer dicker, nur war es natürlich recht langweilig, den ganzen Tag nur zu essen und zu liegen, und so wurden mein Cousin und ich bald recht leichtsinnig und gingen öfters und immer öfters aus, erst nur spazieren, dann schon mal in ein Café - und schließlich auch, trotz aller Warnungen meiner Tante, auch fast jeden Abend zum Tanzen. Wie gefährlich das alles war, habe ich damals wahrscheinlich überhaupt nicht begriffen, denn schließlich wußten ja alle tschechischen Nachbarn meiner Verwandten sehr genau, daß ich eine ausgewiesene Deutsche war, und hätten mich anzeigen können, aber sie haben es nicht getan. Womit wieder einmal bewiesen ist, daß es immer anständige und verbrecherische Menschen gleichzeitig gibt in jedem Volk.

Mein Cousin hatte mir für alle Fälle einen Tennisausweis auf den Namen "Vêra Pátková" gefälscht, und tatsächlich wurden wir eines Abends in den "Sieben Zwergen" von einer Streife kontrolliert, aber nachdem ich schon wieder etwas aufgefuttert war und eben wie ein 22-jähriges Mädchen aussah, haben die Beamten mir länger in die Augen geschaut als auf den Ausweis, der ja noch dazu gar kein gültiges Dokument war, und es ging alles wieder einmal gut. Eigentlich hätte ich damals schon entdecken müssen, daß ich zum Sterben noch lange nicht vorgesehen war, wie noch viele weitere Ereignisse meines Lebens später bewiesen haben, aber als es dann schließlich einmal soweit war, daß ich wirklich einfach nicht mehr leben wollte, da habe ich diese Botschaft noch immer nicht verstanden.

Nach fast drei Monaten in Prag, ausgefüttert und neu eingekleidet - und vor allem von der Tuberkulose geheilt - wurde dann mit meinem Grenz-Schleuser ein Termin für die Rückkehr ausgemacht, und ich fuhr also wieder nach Bärringen, wo ich die Nacht vor dem Eintreffen des Mannes wieder bei meiner alten Tante verbrachte und wir mit Entsetzen feststellten, daß gerade Vollmond war.

Am nächsten Abend, an dem wir mit den voll gepackten Rucksäcken vom Haus meiner Tante gute fünfhundert Meter bis zum Waldrand über freies Feld zu laufen hatten, herrschte gleißendes Mondlicht, und wir wußten, daß wir auf dem unberührten Schnee schon von weitem zu sehen sein würden, wenn jemand vorbei kam.- Meine Tante zündete an ihrem Hausaltar Kerzen an und begann, für uns zu beten, als wir das Haus gegen 23 Uhr verließen, aber Gott hat sie wohl nicht gehört, denn ungefähr zwanzig Meter vor dem rettenden Waldrand geschah es dann: Zwei tschechische Polizisten mit Hunden kamen die Straße herunter und entdeckten uns sofort. Sie riefen uns an und befahlen uns, stehen zu bleiben, rissen ihre Waffen herunter und drohten zu schießen, aber mein Begleiter schrie mir zu, weiterzulaufen, und wir erreichten auch den Wald, aber da wurden die Hunde losgelassen und preschten auf uns zu.

Ich hatte dummerweise meine Filzstiefel angezogen, die ich für das beste Schuhwerk für so einen langen Weg durch den verschneiten Wald hielt, was sich aber nun als grausamer Fehler erweisen sollte, denn mein Begleiter riß mich mitten in einen Bach und schrie mir auf meinen Protest hin zu, daß die Hunde nur so unsere Spur verlieren würden. Tatsächlich, wir hockten uns hinter einen Wasserfall, und die Hunde, keine fünfzig Meter von uns entfernt, rasten im Zick-Zack in eine falsche Richtung davon.

Wir blieben noch zehn Minuten im eiskalten Wasser stehen, da wir fürchteten, daß die Polizisten noch auftauchen könnten, aber es geschah nichts mehr. Schließlich schlichen wir vorsichtig weiter, und zwar in einem großen Bogen um den eigentlichen Weg herum, da der Schleuser vermutete, daß die Polizisten uns irgendwo am Weg abfangen könnten, und so kamen wir auch ungehindert weiter. Allerdings stellte sich dann nach ca. einer Stunde, in der meine Stiefel zu zentnerschweren Klumpen gefroren waren, heraus, daß mein Freund nicht mehr wußte, wo wir waren.

Er erklomm erst einmal den Bergkamm, da ich mit meinen Eisklumpen an den Füßen praktisch gehunfähig war, um sich umzusehen, und stellte fest, daß auf der anderen Seite des Berges ein Dorf lag. Natürlich hatte er keine Ahnung, welches Dorf, und ob es bewohnt oder leer war, wie damals viele der erzgebirgischen Dörfer, die durch die Vertreibung der Bewohner verlassen dalagen, und so pirschte er sich langsam an die Häuser heran, während ich mühsam meine Eisstiefel durch den Schnee schleppte.

Kein Laut war zu hören, er ging näher und fand offene Haustüren, aber keinen Menschen in den Häusern. Also betraten wir ein solches Haus, in welchem noch das Frühstücksgeschirr vom Vertreibungstag auf dem Tisch stand und die Betten nicht gemacht waren, so schnell hatte man auch hier offensichtlich die Bewohner aus ihren Häusern getrieben!

Wir fanden alles, was wir brauchten, trotz der Gefahr machten wir Feuer im Herd, um meine Stiefel zu trocknen und nicht zu erfrieren, denn es war klar, daß wir in dieser Nacht nicht weitergehen konnten, und legten uns dann in die fremden Betten, um zu schlafen, was uns auch tatsächlich nach all den Aufregungen gelang.

Am nächsten Morgen stellte mein Begleiter dann fest, in welchem Dorf wir waren, dachte sich eine neue Tour für die nächste Nacht aus, und wir mußten nun einen ganzen Tag in dem tagsüber natürlich vorsichtshalber ungeheizten Haus in den Federbetten liegend verbringen, bis wir bei Dunkelheit wieder losmarschieren konnten. Diesmal allerdings verzichtete ich auf meine Filzstiefel und zog feste Lederschuhe an, und nachdem wir dann schließlich gegen 2 Uhr morgens glücklich wieder in Johann-Georgenstadt gelandet waren, wo die Ehefrau meines Begleiters schon in Tränen aufgelöst vor dem Hausaltar saß, hatte ich ein für allemal genug von meinen Exkursionen in die Tschechoslowakei.